Torsten Radespiel
  2009
 

Kinder von Hiroshima
 

(Zu Beginn des Gottesdienstes werden aus Papier gefaltene Kraniche an die Gottesdienstbesucher verteilt.) 

 
So sehr habt ihr gerufen,
so sehr habt ihr geschrien.
Nicht Vater und nicht Mutter sind gekommen.
Und auch der fremde Mann, an den ihr euch geklammert,
riß eure kleinen Hände von sich ab und lief davon.
Mit Steinen zugeschüttet euer Schrei.
Heiß, glühendheiß, von einem Wind umweht,
und finster, erdenfinster, und keine Luft zum Atmen.
(Ach, was für Streiche hattet ihr verbrochen?)
Aus euren weichen Händen, dünnen Hälsen lief das Blut.
Ihr, unter Steinen, Eisen, Staub und Schutt und Balken,
wie leicht müsst ihr erschlagen worden sein.
 
Da, hinter dem Hijiyama-Hügel hockten,
in sich gekauert, angstvoll eure Freunde in Gruppen,
mit blind gebrannten Augen.
Ihr rieft zum Knirschen der Soldatenstiefel,
zum Hastgeklapper ihrer Maskenbüchsen:
Helft uns, Soldaten!
Aber keiner half.
 
Und in den Schatten großer Wasserkübel habt ihr gebeten:
Bitte, nehmt uns mit!
Die kleinen Hände zeigten noch nach Westen.
Doch keiner hat euch bei der Hand genommen.
So ahmtet ihr die Großen nach
und tauftet euch allein in Wasserkübeln.
Ihr habt euch Feigenblätter aufs Gesicht gelegt und seid,
ihr Kinder – ohne zu begreifen – dann gestorben.
(Aus dem Gedicht „Grabmal“ von Sankichi Toge, deutsche Nachdichtung von Heinz Kahlau)
 
 
 
Wir haben heute und hier Kraniche verteilt. Jeder von Ihnen hält solch einen Papierkranich in der Hand. Der eine ist rot, der andere weiß. Warum Kraniche und warum die unterschiedlichen Farben?
 
 
6. August 1945, 08:15 Uhr, Hiroshima, Japan
Ein grellweißer Blitz, ein ohrenbetäubender Knall, eine Druckwelle ungeheuren Ausmaßes und eine Feuerwalze, scheinbar ohne Anfang und ohne Ende, legt die Stadt in Schutt und Asche. 80.000 Menschen sterben sofort. – Die erste Atombombe ist explodiert.
 
 
Die Atombombe hat alle belebten Wesen in Asche verwandelt. Aber unsere, der Überlebenden Seelen kann sie nicht verbrennen.
  
9. August 1945, 11:02 Uhr, Nagasaki, Japan
Ein grellweißer Blitz, ein ohrenbetäubender Knall, eine Druckwelle ungeheuren Ausmaßes und eine Feuerwalze, scheinbar ohne Anfang und ohne Ende, legt die Stadt in Schutt und Asche. 60.000 Menschen sterben sofort. – Eine zweite Atombombe ist explodiert.
 
 
Kinder, die überlebten, erinnern sich (Die Altersangaben beziehen sich auf das Jahr 1945, die Erinnerungen wurden 1951 von über 2000 Kindern aus Hiroshima niedergeschrieben):
 
 
Yukihisa Tokumitsu, 12 Jahre alt:
Der Lehrer rief: „Sammeln!“ Von der Hitze erschöpft, stellten wir uns schleppend und träge auf. Da rief jemand: „Ein Flugzeug!“ Als wir nach oben schauten, flog über uns eine B-29. Doch es war kein Alarm gegeben worden, deshalb beunruhigte uns das nicht. Plötzlich blitzte es vor unseren Augen hell auf. Mir wurde schwindelig. Im nächsten Moment wusste ich schon nicht mehr, was los ist. Ich hatte mitten auf der Straße gestanden, doch als ich wieder zu mir kam, kroch ich neben der Straße, dort, wo eben noch Häuser gestanden hatten, über den Boden...
Ich wollte schnell nach Hause. Mir gellen immer noch die Hilferufe der Verschütteten in den Ohren. So weit ich auch kam, überall nur eingestürzte Häuser, violette, aufgedunsene Leichen, eine Frau mit blutendem Kopf, Kinder, die weinten. Niemand half, alle waren nur damit beschäftigt, das eigene Leben in Sicherheit zu bringen...
Als dann auch noch meine Mutter starb, war mir zumute, als wäre die Welt eine Hölle. An jenem Abend glaubte ich, vor Trauer den Verstand zu verlieren. Meine Mutter erschien mir im Traum und sprach mit mir. Mir gehen die Worte meiner Mutter kurz vor ihrem Tode nicht aus dem Sinn. „Der Teufel kommt!“ hat sie gerufen. Hiroshima war wirklich eine Hölle...
Alle meine Bekannten sind ums Leben gekommen. Meine guten Freunde, unsere Nachbarn und die Menschen aus dem Krankenhaus werde ich ewig in Erinnerung behalten. Aber: Eine Familie ohne Mutter, das ist eine einsame Familie. Man setzt sich an den Tisch, aber man muß alles allein machen. Vor allem tut mir mein jüngerer Bruder leid. Oft schaut er neiderfüllt, wie die Nachbarskinder etwas schönes essen. Mein ahnungsloser Bruder, wessen Schuld muß er büßen?
 
 
Hiroshi Yoshioka, 15 Jahre alt
Mit dem 6. August, 08:15 Uhr, begann für mich das erste Kapitel eines neuen, leeren und einsamen Lebens, wie ich es bisher nur aus Romanen kannte. Wir hatten uns gerade auf dem Platz versammelt, als es plötzlich hell aufblitzte. Ich wurde in das Gras geschleudert, mein Frühstück und meine Mütze flogen weg. Das Gras ringsum schien Flammen zu speien. Zwischen den Häusern wüteten große Brände. Mein Körper schmerzte, als hätte mich irgend etwas gestochen. Ich bemerkte, dass sich an der einen Gesichtshälfte und an beiden Händen Blasen gebildet hatten, in denen sich Wasser sammelte und die rasch anschwollen. Ich wollte nach Hause und lief sofort zum Bahnhof Hiroshima.
Leute mit Brandwunden, an denen sich die Haut abgelöst hat und herunterhängt; eine Frau, wahrscheinlich eine Mutter, schleppt einen Leichnam hinter sich her, dessen Geschlecht nicht mehr zu erkennen ist; über die Erde kriecht ein junger Mann, dem beide Beine fehlen...Und ich fand es nicht einmal schlimm oder erschütternd, als ich diese grauenvollen Szenen sah .
Meine jüngere Schwester starb direkt bei dem Bombenangriff, meine Mutter kurze Zeit später an der Atomkrankheit. Die Leute betrachten meine Brüder und mich als mutterlose Jungen mit merkwürdigen Blicken, gewissermaßen als anormale Kinder, die über besondere Erfahrungen verfügen und Herzen so hart wie Stein haben...
Es gibt nichts Traurigeres in der Jugend, als mit einer gewissen Neugier, mit Erbarmen und Mitleid, Verachtung und Misstrauen angestarrt zu werden...Aber ich kann auch sagen, dass wir zu Menschen mit einem unbeugsamen Charakter herangewachsen sind, zu Menschen, die die Kraft haben, auch unter schwierigsten Bedingungen nicht aufzugeben und das Leben durchzukämpfen.
 
 
Toshio Nakamori, 6 Jahre alt
Immer wenn ich in die Stadt gehe, sehe ich Kinder, die mit Vater und Mutter an der Hand vorbeigehen. Und wenn ich diese glücklichen, fröhlichen Kinder ansehe, dann erinnere ich mich an die Zeit, als mein Vater und meine Mutter noch lebten. Mir ist dann, als ob die Gestalten meiner Eltern, die mich so lieb hatten, vor mir auftauchen wollten.
Ich murmele vor mich hin: „Vater, Mutter“, aber sie flüstern mir nichts zu. In solchen Augenblicken bin ich sehr traurig. Und ich beneide meine Freunde.
Aber ich habe mich nun damit abgefunden, dass Vater und Mutter weit weg von mir im Himmel sind. Schließlich verlieren alle ihre Eltern, wenn sie groß sind, ich habe meine Eltern nur früher verloren, sage ich immer. Ich wachse jetzt bei meiner Großmutter auf.
 
 
In Hiroshima lebten im Sommer 1945 etwa 500.000 Menschen, darunter ein Mädchen namens Sadako. Sie war damals 2 Jahre alt. Sadako war zum Zeitpunkt des Atombombenabwurfes ungefähr zweieinhalb Kilometer vom Mittelpunkt der Bombenexplosion entfernt. Fast alle Häuser in ihrer Nachbarschaft wurden zerstört und viele ihrer Nachbarn starben, aber Sadako war weder verbrannt noch war sie verletzt. Sie schien unversehrt.
Es war die erste Atombombe, die jemals gegen Menschen eingesetzt worden war. Alle dachten, dass sie wie eine normale Bombe wäre, nur eben viel größer und stärker. Die meisten Leute hatten keine Ahnung, dass sie etwas ganz anderes hat als normale Bomben - nämlich Strahlung.
1955 war Sadako bereits im siebten Schuljahr. Sie war ein normales, fröhliches Mädchen von 12 Jahren. Sie ging zur Schule, lernte und spielte wie alle anderen Kinder auch. Zehn Jahre waren seit dem Abwurf der Atombombe vergangen, und sie dachte schon lange nicht mehr daran. Statt dessen dachte sie zum Beispiel ans Rennen. Sie war eine der schnellsten Läuferinnen in ihrer Klasse und verbrachte ihre meiste Freizeit mit Training und bei Wettläufen.
Eines Tages fühlte sie sich nach einem Staffellauf sehr müde und schwindelig. Nach einer Weile ging es ihr wieder besser, und Sadako vermutete, dass nur das Rennen sie erschöpft hätte. In den folgenden Wochen versuchte sie, das Gefühl zu vergessen, aber der Schwindel kam immer wieder, vor allem dann, wenn sie rannte. Sie versuchte sich einzureden, dass es nicht wichtig war und dass es von alleine verschwinden würde. Eines Morgens, als sie vor Schulbeginn noch eine Runde um den Schulhof lief, überfiel sie wieder die Schwäche. Und diesmal war es so schlimm, dass sie hinfiel und eine Weile einfach liegen blieb. Nun bemerkten es alle. Man brachte sie ins Krankenhaus, um herauszufinden, was los war. Das Ergebnis: Sadako hatte Leukämie, eine Art Blutkrebs.
Zu der Zeit erkrankten zahlreiche Kinder in Sadakos Alter an Leukämie. Die Menschen nannten sie "die Atombomben-Krankheit". Fast jeder, der Leukämie bekam, starb. Sadako wollte nicht sterben. Sie wollte weiter zur Schule gehen und an Wettrennen teilnehmen. Als sie verstand, dass sie nun im Krankenhaus bleiben musste, weinte sie.
Kurz danach bekam Sadako Besuch von ihrer besten Freundin, Chizuko. Chizuko brachte Origami-Papier mit und faltete einen Papierkranich. Sie erzählte Sadako eine Legende dazu. Sie sagte, dass der Kranich tausend Jahre alt wird und dass ein kranker Mensch wieder gesund wird, wenn er tausend Kraniche faltet.
Sadako beschloss, tausend Kraniche zu falten. Oft fühlte sie sich schwach und müde, so dass sie nicht ständig daran arbeiten konnte. Doch von diesem Tag an faltete sie Kraniche, wann immer sie dazu Kraft hatte. Manchmal fühlte sie sich im Krankenhaus einsam oder ängstlich. Dann faltete sie Kraniche, um die schlimmen Gefühle zu bekämpfen. Sie merkte, dass Kraniche falten ein guter Weg war, um sich Mut zu machen.
Sadako hatte ihre tausend Kraniche tatsächlich fast fertig gefaltet, aber es ging ihr nicht besser. Sadako starb, bevor sie die 1.000 erreichte.
 
 
Die weißen Kraniche, die wir gefalten haben, sollen uns an die Kinder erinnern, die direkt durch den Atombombenabwurf getötet wurden.
Die roten Kraniche sollen all den Kindern in Hiroshima und Nagasaki Mut machen, die noch immer an den Spätfolgen dieser Bomben leiden müssen.
 
 
Am 5. Mai 1958 wurde in Hiroshima „Das Kinder-Friedens-Denkmal“ eröffnet. Seitdem werden hier Ketten aus Papierkranichen aus allen Teilen der Welt als Zeichen der Hoffnung aufgehängt.
Auf dem Granitsockel des Denkmals sind die Worte eingraviert: 

Dies ist unser Ruf

Dies ist unser Gebet
Frieden zu schaffen in dieser Welt.

 

Wir möchten Sie bitten, die Papierkraniche nachher am Ausgang abzulegen. Wir werden sie zu einer Kette verbinden und als Zeichen der Hoffnung nach Hiroshima schicken.
 
Puhdys – Hiroshima:

 
Quellen:
Netzwerk Friedenskooperative
Prof. Dr. Arata Osada: Kinder von Hiroshima
Informationsschreiben der Japanischen Botschaft in Deutschland
Peace Promotion Division of The City of Hiroshima, Hiroshima
 
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